Alles fing mit meinem Hund Tom an. Er hatte Angst vor Kindern, vor ihren unvorhersehbaren Bewegungen und ihren Rollschuhen. Er bellte sie an und zog an der Leine, wo immer er sie entdeckte. Ich konnte ihn nicht ablenken: Weder Leckerchen noch Schimpfen half. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass Tom nichts gegen Kinder hatte. Er fürchtete sich aber vor ihren Bewegungen und den schrillen Stimmen. Gassigehen wurde zu einem stressigen Unterfangen bei dem es beinahe unmöglich war, den Kindern auszuweichen. Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen und klingelte bei meinen Nachbarn. Sie hatten 2 Kinder, Suzie (7) und Pete (5). Als ich meine Nachbarin fragte, ob eines ihrer Kinder mich und Tom auf unseren Spaziergängen begleiten würde, sagte sie ja. Ich hatte jedoch kein gutes Gefühl bei diesem „Experiment“ und so brachte ich Tom bei einen Maulkorb zu tragen. Es war ein Maulkorb durch den man dem Hund Leckerchen zuschieben konnte und so schmierte ich Leberwurst hinein. Anstatt weiterhin zu versuchen, den Maulkorb loszuwerden, war Tom nun mit Kopf im Nacken damit beschäftigt, seinen leckeren Inhalt auszuschlecken. Nach einer Woche, begann ich Suzie auf einen meiner Spaziergänge mitzunehmen. Sie mochte Hunde, hatte aber gleichzeitig auch Angst vor ihnen, besonders, wenn sie nicht an der Leine waren. Wie zu erwarten, fing Tom an, Suzie anzubellen und in die Leine zu gehen. Dies änderte sich augenblicklich, als ich Suzie meine Leckerchentüte überreichte. Nun folgte mein Hund ihr, wie ein Esel hinter einer Möhre hergaloppiert. Sie hielt Abstand zu ihm und jedes Mal, wenn er auf ihren Befehl „Sitz! Bleib!“ hörte, warf sie Leckerchen in seine Richtung. Wir gingen in das Naturschutzgebiet. Plötzlich kamen 3 Labradore aus dem Gebüsch und umkreisten Suzie, weil sie deren Leckerchen rochen. Sie fing an zu weinen, während ich noch versuchte die 3 Hunde wegzuschicken, was keine leichte Aufgabe war. Nach diesem Vorfall wollte Suzie nicht mehr den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Sie hatte Angst wir würden wieder den 3 Labradoren und anderen leinenlosen Hunden begegnen. Wir versuchten einen anderen Weg nach Hause zu laufen, aber es war hier genauso schwierig freilaufenden Hunden auszuweichen wie es zuvor unmöglich gewesen war, Kindern auszuweichen. Als ich Suzie fragte, wo sie denn nun hingehen wollte, antwortete sie „in den Park“. Das war eine gute Idee, denn im Park galt Leinenpflicht für Hunde. In den kommenden Wochen wurde der Park zu unserer Zuflucht. Hier suchten wir Löwenzahn und Gras für meine zwei Meerschweinchen. Suzie entspannte sich, während wir uns unterhielten und nach den besten Löwenzahnblättern Ausschau hielten. Insgeheim bewunderte ich sie dafür, dass sie immer noch mit auf unsere Gassigänge kam, obwohl sie sich vor Toms unerwarteten Bewegungen fürchtete und vor anderen Hunden ohne Leine. Es schien, als ob es ein „Muttraining“ für beide –Hund und Kind-war. So konnte ich Toms Maulkorb abmachen. Doch als ich ihn einmal freiließ, lief er um Suzie herum und so ließ ich ihn von da an an der Leine, wenn sie mitkam. Er sehnte sich nach ihren Leckerchen, so dass er morgens vor ihrem Haus anfing zu winseln. Dann-eines Tages-wollte auch Pete meine Meerschweinchen und meinen Hund sehen. Suzie, die die kleinen Nager schon kannte, zeigte ihrem Bruder stolz, wie er sie sicher zu halten hatte. Tom war an der Leine, so dass er nicht so nah an die Kinder herankommen konnte. Ich gab ihm Leckerchen, weil er nicht mehr versuchte an den Meerschweinchen zu schnuppern und sie abzulecken… Dann, nachdem wir die Meerschweinchen zurück in den Käfig gesetzt hatten setzte sich Pete Tom gegenüber auf den Boden. Man sah ihm an, dass er keine Angst vor dem Hund hatte und sehr neugierig war. Ich gab ihm ein Leckerchen und zu meinem großen Erstaunen hielt er es Tom auf der flachen Hand vertrauensvoll hin. –„Es ist leicht, wie wenn man Pferde füttert“, rief er stolz. „Auf Suzie, du streichelst doch auch den Jack Russel Terrier von den Nachbarn…“
Aber Suzie erstarrte. Sie fühlte sich unwohl, schrie die Meerschweinchen in ihrem Käfig an, holte sich ein Kinderbuch aus dem Regel und versteckte sich damit in einer Ecke. Sie war fast am Weinen und sagte mir, dass sie gerne auch Tom streicheln würde, aber es eben nicht konnte. Ich sagte ihr, dass das nicht schlimm sei, ob sie den Hund streichelte oder ob ihr Bruder schneller war. Was wichtig war, war dass sie trotz ihrer Angst immer noch mit uns spazieren ging. Und ich erzählte ihr, wie Tom vor ihrem Haus winselte, wenn sie nicht da war. Und dass manche Dinge im Leben einfach länger dauern als andere. Und hier kommt das Geheimnis: Angst haben und sie zeigen ist nicht ein Mangel an Mut, sondern das Gegenteil. Jeder von uns hat vor irgendetwas Angst. Die meisten von uns versuchen es zu verstecken, weil sie sich dafür schämen. Aber dieses Kind, sie hatte den Mut, „auf dem Pfad der Angst“ zu wandeln, nur um mit meinem Hund zusammen zu sein, den sie auch teilweise fürchtete. Letzten Endes dachte sie wohl, dass ihr jüngerer Bruder ihr die „Show“ stehlen würde, indem er Tom zuerst streichelte. Ich glaube, wir sind alle ein wenig wie sie, wenn wir uns die ganze Zeit mit anderen vergleichen, wo keine Vergleiche nötig und möglich sind. Jeder ist auf seine Art einzigartig. Wir alle haben unsere Stärken und Schwächen. Das Geheimnis ist, dass wir unseren Weg trotzdem weiter gehen und dabei die Schwächen lernen zu akzeptieren und die Stärken lernen zu erkennen. Diese „Geschichte aus dem Leben“ wollte ich mit Ihnen, liebe Leser, teilen. Und ich wünsche Ihnen gesegnete Feiertage und ein gutes und weniger herausforderndes Jahr 2021!