Das Erreichen von Vergebung wird für mich wohl ein lebenslanger Prozess bleiben. Doch vielleicht gibt es ja so etwas wie eine “Teilvergebung”. Zu verstehen, dass die “Täter” oder “Aggressoren” selbst einst Opfer (auf die eine oder andere Weise) waren, hilft nicht unbedingt “alles wieder gut” zu machen. Es braucht sehr viel emotionale Kraft, um die Wut, Verletztheit und die innere Verwirrung gehen lassen zu können. Dieser Heilungsweg kann sogar erfordern, dass wir in unserer Vorstellung die einstigen Aggressoren anschauen, im besten Fall mit einem traurigen Lächeln und Verständnis/Vergebung, damit wir die vergangenen Erfahrungen so wegpacken können, dass wir ein neues Leben leben können, mit einem neuen, freierem Selbst.

Da sich das Trauma der Ohnmacht und der Ausgrenzung in meinem Leben auf ähnliche Art und Weise immer wiederholt hat, bleibt es vielleicht an mir, die heutigen Aggressoren in einem neuen Licht zu sehen. Hinter ihrer Negativität und ihrem abwertenden Verhalten, steckt häufig auch ein Opfer. Und es ist scheint, dass dieses Opfer einst den aggressiven und negativen Weg gewählt hat. Es zeigt mir, dass die Kontrolle und Abwertung von anderen der einzige Weg ist, nicht selbst auf dieses jüngere Ich schauen zu müssen, das damals so dringend Unterstützung gebraucht hätte. Und dies ist wohl der Punkt, wo ich fühle, dass ich dem Aggressor in dieser Hinsicht ähnlich bin. Auch ich habe viele Dinge versucht, um die verletzten Anteile nicht sehen zu müssen. Nur bin ich, nachdem sich die Schmerzen so nur “verschoben” haben einen anderen Weg gegangen. ER war sehr schmerzhaft, hat mich aber schließlich mehr zu mir geführt und zu alldem, was ich ohne Angst sein kann und sein könnte. Ich glaube auch nicht, dass man “einfach so” vergeben kann, ohne die bisher unterdrückte Wut und die tiefe Trauer darunter durchlebt zu haben. Mir jedenfalls ist Vergebung zu einem früheren Zeitpunkt nur “vom Kopf” her geglückt, weil meine Verletztheitsgefühle sich noch nicht hatten ausdrücken dürfen. Der Psychologe Enright beschreibt “Wut, Unversöhnlichkeit, Bitterkeit und Ressentiments” als die “vier Mauern einer Gefängniszelle”, in die eine Person in Opferposition eingeschlossen ist. “Vergebung ist der Schlüssel, mit dem [sie] die Gefängnistür öffnen kann.”

Written by Renate Weber