Was kann Hochsensitivität (HSP) im Alltag bedeuten?

Hochsensitivität im Alltag bedeutet für mich, ständig allen Reizen ausgeliefert zu sein. Es ist das Gefühl, als ob mir die (Schutzhülle) fehlt und alle Geräusche, Gerüche, Farben und Gespräche mir direkt „unter die Haut“ gehen und in meiner Erinnerung nachklingen, wie ein Lied, das man nicht abstellen kann. Was ich lernen möchte, ist wieder in „meinen Körper“ zu kommen, anstatt in Gesprächen und Gruppenveranstaltungen 90 Prozent beim „anderen“ zu sein und mich wie zu verlieren. Ich habe dann das Gefühl, ich weiß, wie es dem anderen geht, wie die Stimmung in der Gruppe ist, aber ich kann nicht mehr sagen, wie es mir geht: Ich habe den Bezug zu mir selbst verloren. So als ob ich aus meinem Körper gegangen wäre, um bei all den anderen zu sein. Es ist als ob ich ständig „auf Sendung“ wäre, aber eher wie ein Reporter, der die Stimmungen, Kommentare, Bilder und Geräusche der anderen „speichert“, um sie dann in den Nachrichten wiedergeben zu können. Doch was mache ich mit all diesen so zufälligen Geräuschen und Informationen, die scheinbar niemand braucht? Es kostet mich Kraft, ich werde müde und gereizt und versuche oft durch Rückzug in meine Wohnung all diesen Reizen zu entgehen. Doch diese Rückzugsphasen geben mir auch das Gefühl „nicht immer mitspielen“ zu „dürfen“. Dabei scheint mich mein Körper manchmal „zurückzuhalten“, wenn es um abendliche Verabredungen geht. Hinterher leide ich darunter, dass ich nicht doch –gegen alle inneren Widerstände- hingegangen bin.

Aber nun habe ich gelernt, dass es eventuell möglich ist, wie durch eine Art Rückbezugstraining, wieder mehr mit der Aufmerksamkeit bei mir zu sein. Es fängt damit an, dass ich in Gesprächen versuche, meine Füße zu spüren oder –sitzend- die Stuhlfläche auf der ich sitze. Im Auto fühle ich wieder die Hand auf dem Lenkrad und in Gruppenveranstaltungen lege ich meine Hand auf mein Schlüsselbein. Es ist wie bei einer Meditation: Je öfter ich, trotz Außengeräuschen, „in mich“ „einkehre“, desto besser kann ich mich dagegen schützen, mich in meinem Gegenüber und der „lauten Welt“ zu verlieren.

Hierbei brauche ich einen Anker, der mich in meinem eigenen Raum hält. Dieser Halt ist bei vielen von uns wahrscheinlich dann entstanden, als unsere Eltern uns als Babys und Kleinkinder in den Armen gehalten haben. Vielleicht ist es auch der Halt, den indigene Kulturen weitergeben, wenn die Mütter ihre Babys am Körper tragen. Das Kind erfährt so, dass es –trotz all dem was draußen tobt-geborgen ist. Sein Halt ist der konstante Kontakt zur Haut und zum Puls der Mutter. In beiden –Mutter und Baby-wird das Bindungshormon Oxytocin produziert, was die Mutter-Kind Bindung festigen soll. Je nachdem, wie gut diese Bindung „glückt“, desto besser ist der Mensch im Erwachsenenalter fähig, eine gute Beziehung zu sich und zu anderen aufzubauen. Werden Traumata erlebt, geht –wie bei HSP-die Wahrnehmung vorwiegend nach außen, um „ständig auf der Hut“ vor Gefahr sein zu können. So gibt es einen starken Zusammenhang zwischen HSP und Trauma. Dabei ist es schwer zu sagen, ob zuerst das Trauma „da war“ oder die Hochsensitivität. Beiden gemeinsam ist jedoch ein Verlust des Gefühls für den eigenen Körper und die eigenen Bedürfnisse. Dabei ist der Körper bedeutend. Leider haben wir in unserer digitalen Gesellschaft oft verlernt, auf ihn zu hören. Die Folge ist, dass wir oft „nur noch“ im Kopf sind. Wir planen unsere Zukunft, erledigen möglichst viele tägliche Aufgaben und nehmen dabei kaum noch wahr, wie unser Körper mit all diesen Anforderungen klar kommt. Die Folge kann nach vielen Jahren ein Burnout sein. Man hat festgestellt, dass Menschen, die über längere Zeit MBSR (Mindfulness-Based-Stress-Reduktion[1]) gemacht haben (also meditiert haben, Yoga/Tai Chi gemacht haben, und sich gesund ernährt haben), danach ruhiger und achtsamer und sogar effizienter ihre Arbeit und ihren Alltag bewältigen konnten. Das liegt daran, dass diese Menschen sich und ihrem Körper „Pausen“ gegönnt haben, in denen sie „in sich“ gegangen sind. Sowohl die Blutwerte als auch Blutdruck und innere Anspannung haben sich bei diesen Menschen gebessert.  Was hat das jetzt alles mit HSP zu tun?

Nun, HSP kann man nicht irgendwie „wegmachen“, es ist auch keine anerkannte „Krankheit“, sondern wird als „Begabung“ gesehen. Für Betroffene wie mich fühlt sich diese „Begabung“ jedoch oft wie ein Fluch an, der mich daran hindert voll am Leben teilzuhaben. Es ist so, als ob die kurzen Zeiten, in denen ich durch mein tiefes Empfinden glücklich bzw. euphorisch bin, automatisch abgelöst werden von einem „Absturz“ in die Reizüberflutung und den damit verbundenen Rückzug mit seinen langen Schlafphasen. Es gibt also keine „Medikamente“, die die Reizüberflutung verhindern. Es gibt für mich nur die Möglichkeit mein Bewusstsein zu „schulen“ und z.B. im Gespräch mit anderen auch mal meinen Blick in die Ferne schweifen zu lassen, um nicht nur im Gesicht des anderen „zu lesen“. Diese Schule der Achtsamkeit (Wie stark spüre ich mich gerade? Wie viel Prozent meiner Aufmerksamkeit sind im Außen) zusammen mit Meditation und Sport kann meine Lebensqualität verbessern. Ziel ist, dass ich mir selbst durch einen guten Kontakt zu meinem Körper ein Halt bin. Dieser Halt kann auch entstehen, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf meinen konstanten Atem lenke. Mit ihm kann ich in die Entspannung kommen, und damit „bei mir selbst zu Hause sein“. Denn wenn ich mich „in mir selbst“ mehr zu Hause fühle, kann ich auch öfter und länger „in die Welt gehen“. Das war es, was ich mit Ihnen, liebe Leser, teilen wollte.

[1] Mindfulness Based Stress Reduction: Achtsamkeits basierende Verminderung von Stress

Written by Renate Weber